TEMU, SHEIN und unsere  Konsumgewohnheiten – Sind wir Menschen wirklich eine intelligente Spezies?

Aktuelles

Einmal mehr sind wir, die wir uns mit E-Commerce beschäftigen und gleichzeitig mit Nachhaltigkeit, sprachlos. Wir hätten es ehrlich gesagt nicht für möglich gehalten:
Seit ein paar Monaten (gefühlt erst Wochen, der Beginn war im April) geht wieder ein neues Gespenst um.

Es wird uns in Kleinanzeigen, bei Google- und Google-Shopping-Suchen, in Insta und in TikTok in Form von Werbung angezeigt, wo Artikel – manchmal welche, die man brauchen könnte oder sogar gesucht hat, manchmal totaler Schwachsinn – so billig dargestellt sind, dass wir wochenlang darüber hinweg gelesen haben, weil der innere Plausi-Check es für unreal hielt.

Screenshot from original page www.temu.com made by nice e.V. on Okt 10 2023 showing really cheap and partly completely superfluous stuff like spoons that say "best grandmother in the world", wigs or secret Santa stuff
Screenshot from original page www.temu.com made by nice e.V. on Okt 10 2023
Screenshot from original page www.temu.com made by nice e.V. on Okt 10 2023 showing really cheap and partly completely superfluous stuff like halloween deco and thermo shoe soles
Screenshot from original page www.temu.com made by nice e.V. on Okt 10 2023

Irgendwann aber haben wir hingesehen. Und auch mal geklickt…

Es waren Anzeigen von TEMU. Wir hatten bis dahin noch gar nicht von TEMU gehört. Ein paar Artikel und Podcasts später wissen wir, es ist das absolute High-End-Gespenst, wenn es darum geht, uns Verbraucherinnen und Verbrauchern den Spiegel vorzuhalten.

Denn:

Diese App hat sehr großen Erfolg auf der ganzen Welt mit ihrer online omnipräsenten Werbung. Und zwar Werbung für das Geschäftsmodell, Menschen unfassbar billige und qualitativ nicht einschätzbare Dinge zu verkaufen, ohne jede Nachhaltigkeit in Material, Produktion oder Lieferkette auch nur anzudeuten. Völlig egal.

Einer der Lieblingsslogans, etwa auf der App-Downloadseite im Google Playstore: Shoppe wie ein Milliardär.

Ohne Qualitätsversprechen. Ohne Gewährleistung (viel Spaß beim Schreiben böser Mails nach China).

Screenshot of Temu´s Download-Section in Google Playstore made by nice e.V. on Oktober 10th 2023
Screenshot of Temu´s Download-Section in Google Playstore made by nice e.V. on Oktober 10th 2023

Viel mehr Menschen haben vielleicht mittlerweile von TEMUs “Vorgänger” gehört, SHEIN. Auch SHEIN (gesprochen Schi-In) ist seit wenigen Jahren unfassbar erfolgreich mit einem Geschäftsmodell, das man nur als “Mega-Fast Fashion mit der Hochdruck-Schneekanone über die Welt versprühen und kein einziges Mal an Nachhaltigkeit denken” bezeichnen kann.

SHEIN, wie TEMU chinesischen Ursprungs (auch wenn die Zentrale von TEMU in den USA sitzt), hat Maßstäbe gesetzt in der Geschwindigkeit, in welcher Markenware kopiert und billigst nachgebaut sowie an – angeblich überwiegend- Teenager in 220 Ländern verkauft wird. Funfact: H&M, die selbst auch mit einem ähnlichen Modell (blitzschnelles Kopieren binnen weniger Wochen nach den Fashion Shows) groß wurden, gehören jetzt zu den Kopierten und sind mit SHEIN seit Jahren vor Gericht. Auch die Blitze sind nicht mehr, was sie einmal waren.. Jetzt also TEMU.

Nicht nur Fashion. Kein Produzent sondern eine Handelsplattform.

TEMU flutet die Welt mit Ramschware und ultra-fast Fashion. Wir reden hier von Angeboten wie “Sneakers für EUR 2,13”. Wenn man einmal darauf klickt, dreht sich zusätzlich noch ein “Glücksrad” für weitere Rabatte. Denn die App hat das Ziel, eine möglichst hohe Aktivitätsfrequenz herzustellen. Aktivitäten sind hier etwa auch Empfehlungen oder Gruppenkäufe. Das dahinterstehende Modell wird in Abgrenzung zum eCommerce auch Social Commerce genannt. 

Darüber entstehen eine Menge Touchpoints, also Kontakte zwischen den User*innen und TEMU und es erhöht sich entsprechend die Wahrscheinlichkeit, Verkäufe tätigen zu können.

Löst Interaktion die Conversion ab?

Es ist insofern eine sehr spannende Abkehr vom bisher das salesorientierte Onlinemarketing prägenden Prinzip der Konversion (Conversion), also einem klaren Verkaufsziel, welches am Ende der Kampagne steht. Service-, Wiederbestell- oder Upselling-Aktivitäten einmal außen vorgelassen.

Hier geht es jetzt darum, eine möglichst aktive Aktivitätswolke zu erzeugen und dahinter steht die Überzeugung, dass daraus viele Käufe entstehen werden.

Die Regierungen sponsern diesen ökokannibalistischen Irsinn mit einem Zollzuschuss von geschätzt 35 Euro pro Warensendung (die Zahl stammt aus einem Artikel in der SZ), weil bisher niemandem Relevanten die Lücke in den Zollbestimmungen aufgefallen zu sein scheint, wonach auch Unternehmen zollfrei in die EU senden dürfen, solange die Warensendung einen Wert von unter EUR 100 hat.

Und jetzt das, was wirklich besorgniserregend ist: Menschen kaufen diese Dinge als gäbe es kein Morgen. Die Umsätze von TEMU 2022 betrugen ca. 23 Milliarden Dollar. Das Unternehmen wurde in jenem Jahr überhaupt erst gegründet.

Ist es wirklich so einfach, Menschen in ihren persönlichen Überzeugungen komplett auszuhebeln und zu willfährigen, nicht mehr an Morgen denkenden, Klick&Kauf-Robotern zu machen? Oder, noch schlimmer, gibt es persönliche Überzeugungen aka Umweltbewusstsein bei viel weniger Menschen, als man aus der einen oder anderen Blase heraus glaubt?

Wir können das an dieser Stelle nicht untersuchen. Nur allgemein Realitäten feststellen und mit unseren Wahrnehmungen und unserem individuellen Wissen matchen. Wir denken daran jedes Mal, wenn wir an Filialen von Primark, Kik, Action, Ernstings-Family oder anderen Billigstketten vorbeilaufen, die gut besucht und manchmal sogar knallvoll sind. Die Primarktüten in den Innenstädten sind immer noch zahlreich und voll.

Ich bin jedes Mal hin- und hergerissen zwischen einer Art Wut auf jede/n, die/der da einkauft, Mitleid mit jenen, die das vielleicht “müssen” und dann aber wieder der Klarheit, dass unglaublich viel ja gar nicht gekauft werden müsste (daher die Anführungszeichen eben um das Wort müssen).

Wo also können wir überhaupt ansetzen? In unserer Selbstreflektion als Spezies aber auch individuell.

Was läuft falsch?

Ich glaube, im Verständnis dessen sind wir noch nicht wirklich weit gekommen. Das SDG12 (UN-Nachhaltigkeitsziel 12), welches Produktion und Konsum gemeinsam im Sinne von Nachhaltigkeit austarieren möchte, muss genau dieses Problem adressieren.

Ich halte es tatsächlich für ein im Wortsinne humanistisches Projekt, die Beweggründe der vielen Menschen, die solche Geschäftsmodelle wie TEMU oder SHEIN möglich machen, zu erfragen, zu analysieren und zu adressieren. Menschen die getrieben zu sein scheinen vom reinen Kaufvorgang, sei es ein “sich belohnen” oder ein “will/muss ich haben weil…” oder seien es andere Gründe.

Wir möchten das gern genauer wissen, damit wir uns dazu eine klarere Meinung bilden und dazu beitragen können, dass wir alle auf diese Situation angemessener reagieren können. Dieser Text soll gern dazu beitragen, dass wir in eine Debatte kommen.

Sprecht uns von be nice an, falls Ihr als Unternehmensentscheider*innen genau mit solchen Fragen befasst seid, etwa bei Eurer Zielgruppenarbeit. Lasst uns gemeinsam bold sein, nachhaltig. Und effektiv.

Foto von Will H McMahan auf Unsplash

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